Die prekäre Stellung des Faches Politik an Berliner Schulen – und die Konsequenzen für Demokratie, Lehrkräftemangel, Qualität der Lehrkräftebildung und die neuen RahmenlehrpläneSabine Achour

von Prof. Dr. Sabine Achour
Vorsitzende des Landesverbandes Berlin der DVPB

(1) Schulgesetz und Demokratie in Berlin

Laut Berliner Schulgesetz ist es Auftrag der Schule, die politische Urteils- und Handlungsfähigkeit der Jugendlichen zu fördern, um Demokratie mitgestalten zu können und diese gegen extremistische Ideologien zu verteidigen. Diese Fähigkeiten in der Schule zu fördern, sind auch die zentralen Ziele des Faches Politik und der dafür – u. a. in Berlin – ausgebildeten Lehrkräfte.

Phänomene wie PEGIDA, Rechtspopulismus, salafistische Ideologien, Antisemitismus, Antiziganismus, ausgrenzende Einstellungen gegen Menschen mit Behinderungen, gegen sexuelle Vielfalt und gegen anders Denkende stellen eine andauernde Herausforderung dar. Zurzeit nehmen sie eher zu und sind in der Mitte der Gesellschaft verankert. Insbesondere im Kontext von Migration und Flucht bedrohen sie Vielfalt und Pluralismus, in Berlin, in Deutschland und Europa. Ausgrenzende Einstellungen entstehen u.a. aufgrund der Angst und Unwissenheit hinsichtlich der Komplexität von Politik sowie durch Gefühle von Ohnmacht gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen. All dies sind Handlungsfelder politischer Bildungsarbeit. Um daran alle Heranwachsenden partizipieren zu lassen, existiert das Fach Politik in der Schule.

Berlin allerdings hat diesbezüglich einen Sonderweg beschritten und das Fach hat sich zu einem elitären Angebot der gymnasialen Oberstufe entwickelt. In den Klassen 7-10 müssten die Schülerinnen und Schüler mit der integrierten Position des Faches in den Geschichtsunterricht (2/3 Geschichte – 1/3 Sozialkunde) ca. 11 Stunden Sozialkunde pro Halbjahr haben, doch selbst die werden v.a. wegen des Zeitmangels de facto kaum noch unterrichtet.

(2) Die politische Ungleichheit in Berlin wächst

Jugendliche, die kein Abitur ablegen, haben sich somit in Berlin im ungünstigsten Fall nie mit Politik in der Schule beschäftigt. Ist dies auch im Elternhaus nicht der Fall, wird in der Stadt dem „Anwachsen politischer Ungleichheit“ (Bertelsmann Stiftung)[1], wie es sich auch in der abnehmenden Wahlbeteiligung entsprechender Milieus niederschlägt, zwischen bildungsnahen und -fernen Jugendlichen institutionell kaum noch etwas entgegengesetzt. Die Politik-Lehrkräfte an den Berufsschulen treffen dann auf verschiedene Formen ausgrenzender Einstellungen und naiver Politikvorstellungen z.B. a la PEGIDA. Da der Politikunterricht v.a. auf die institutionenkundlich ausgerichtete IHK-Abschlussprüfung ausgerichtet ist, ist der Zug für erfolgreiche politische Sozialisationsprozesse in der Schule in der Regel abgefahren. Die Lehrkräfte fühlen sich überfordert, so dass man froh ist, beim Auswendiglernen bleiben zu können.

D. h., in Berlin lässt sich besonders beobachten, dass die Trennlinie politischer Ungleichheit – wie so oft – zwischen den bildungsfernen und bildungsnahen Familien und deren Kindern, den Wählerinnen und Wählern von morgen verläuft. Insgesamt wählen bildungsferne, einkommensschwache Milieus mit 31% sehr viel seltener als Angehörige bildungsaffiner Milieus (68%)[2]. Diese Disparitäten spiegeln sich in Berlin mit dem Angebot von Politikunterricht für die jeweiligen „Schichten“ wider. Dabei zeigt eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung geförderte Studie des Politikdidaktikers Dirk Lange aus dem Jahr 2013, dass sich Jugendliche aus bildungsfernen Milieus häufig nur noch in der Schule, nicht aber in der Familie oder im Freundeskreis mit Politik beschäftigen[3]. Wer aber im sozialen Umfeld nicht über Politik spricht, geht auch seltener wählen, so die Ergebnisse der Studie der Bertelsmann Stiftung.

(3) Wie kommt es zu der Berliner Benachteiligung?

Es fehlen konkret ausgewiesene Stunden für dieses eigentlich existierende Fach mit einem eigenen, neu entwickelten und 2016 in Kraft tretenden Rahmenlehrplan. Durch die Integration des Faches in den Geschichtsunterricht, dessen Rahmenlehrplan u. a. nach der Einführung von Ethik so voll ist, wird Politische Bildung im Umfang von ungefähr einmal (!) sechs Stunden am Ende des Halbjahres häufig nicht mehr geschafft. Die Konsequenzen dieser Situation wirken unterschiedliche zurück. Suchen z. B. angehende Politiklehrerinnen und -lehrer einen Praktikumsplatz für den Sozialkundeunterricht, bekommen sie immer häufiger von den Schulen die Antwort: „Sozialkunde? Gibt es hier nicht.“ Mit der Einführung des Praxissemesters in Berlin dramatisiert sich die Situation, da die Schulen keine fachlich fundierte Praxis in der Sekundarstufe 1 anbieten können. Eine fachfremde Ausbildung in Geschichte oder Ethik konterkariert die Idee des Praxissemesters.

(4) Peinliche Situationen für Berliner Lernende in Bundestag und Bundesrat

Weil die Lernenden mit dem Fach Politik, häufig mit Politik insgesamt nichts anfangen können, wird von einigen Schulen nun auch zurückgemeldet, dass Politik in der Oberstufe seltener als Prüfungsfach gewählt wird. Die Oberstufenlehrkräfte halten sich mit ihrem Urteil auch nicht zurück: grundlegende Kompetenzen und ein Verständnis für politische Prozesse sind nicht vorhanden, so dass schleierhaft ist, wie Abiturprüfungen in dem Fach bestanden werden können. Wahrscheinlich ist es auch ein Segen, dass Politik kein PISA-Fach ist und Berlin sich im Bundesvergleich nicht messen lassen muss.

„Versteckte“ PISA-Tests finden aber z. B. in den politischen Institutionen statt. In Bundestag und Bundesrat gelten die Berliner Lernendengruppen bei Besuchen als die, die im Bundesvergleich eher wenig wissen, keine Ahnung von politischen Prozessen und Abläufen haben, geschweige die Bedeutung eines Parlaments oder des Föderalismusprinzips für die Demokratie einordnen können. Zu politischen Fragen können sich viele nur schwer positionieren. Häufig eher emotional als mit guten Argumenten. Diese Situation ist natürlich peinlich, da Berlin auch Hauptstadt der Politik ist.

(5) Neue Rahmenlehrpläne für Berlin und Brandenburg

Berliner Lernende erreichen Standards ohne Unterricht?

Berlin und Brandenburg haben viel Geld für neue, gemeinsame Rahmenlehrpläne u. a. für die Sekundarstufe 1 (7-10), mit gemeinsamen Inhalten und Standards, u. a. für Abschlüsse – auch für das Fach politische Bildung ab dem Schuljahr 2016/17 investiert. Absolut kurios ist allerdings, dass das Fach in Brandenburg mit 1-2 Stunden pro Woche unterrichtet wird, in Berlin – in Glücksfällen – mit sechs Stunden pro Halbjahr. Wie bei diesen zeitlich völlig unterschiedlichen Vorgaben die gleichen Kompetenzen gefördert, Inhalte thematisiert und Standards erreicht werden sollen, ist völlig unklar und konterkariert den Sinn von Standardformulierungen – deren Erarbeitung sehr zeitintensiv ist. Eine Vorgabe an die Kommission war u. a. die Entschlackung der Lehrpläne. Bei der unterschiedlichen Aufstellung des Faches in den Bundesländern zusammen mit der Unklarheit, wie viele Stunden in Berlin zur Verfügung stehen werden, ist es nur schwer möglich, diese Vorgaben nachvollziehbar umzusetzen.

(6) Berliner Lehrkräftemangel, Qualität der Lehrkäftebildung – „weg aus Berlin“

Die Politikdidaktik an der Freien Universität Berlin ist eine der größten Didaktiken an den Berliner Hochschulen, hier wird ein eklatanter Anteil der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet. Zwar ist Politik (noch) kein Mangelfach – es wird ja auch fast nicht unterrichtet – , aber all diese jungen Lehrkräfte haben ein zweites Fach: Mathe, Englisch, Französisch, Physik etc., die nun dringend benötigt werden. Aber sowohl die Ausbildungs- als auch die Arbeitssituation sind in Berlin im Vergleich mit anderen Bundesländern so unerfreulich und auch problematisch, dass viele Berlin verlassen.

Denn in der Realität müssen die jungen Lehrkräfte zu einem eklatanten Teil fachfremd unterrichten, nämlich Geschichte in den Klassen 7-10. D. h., die Arbeitsbelastung erhöht sich durch das ständige neue Einarbeiten enorm. Dabei muss unterstrichen werden, dass es sich bei Geschichte und Politik, wenn zwar auch um affine Fächer, doch um unterschiedliche Inhalte, Didaktiken und v. a. Zielsetzungen handelt. Auch die Fachseminare der 2. Phase „integrieren“ beide Fächer, was für die SeminarleiterInnen unterschiedlich erquickend ist. Etliche haben sich eingearbeitet und es macht ihnen auch Spaß, aber die Berliner Realität zeigt deutlich, viele SeminarleiterInnen, ReferendarInnen und LehrerInnen sind überfordert. Aus der Bildungsforschung ist seit langer Zeit bekannt, dass sich fachfremd gegebener Unterricht negativ auf die Kompetenzentwicklung und den Leistungsstand der SchülerInnen auswirkt. Das gleiche lässt sich für die Qualität der fachfremden Lehrkräftebildung in der 2. Phase sagen.

Dieser Umstand sowie die lockenden Angebote anderer Bundesländer führen dazu, dass viele junge Politiklehrkräfte, in deren universitäre Ausbildung Berlin viel Geld gesteckt hat, trotz Lehrkräftemangel mit ihren dringend gebrauchten Zweitfächern Berlin verlassen. Und häufig sind hier engagierte JunglehrerInnen zu finden, die im Gegensatz zu anderen gern auch an Sekundarschulen arbeiten möchten – was vielleicht mit dem Fach und politischem Engagement zu tun haben mag.

(7) Politische Bildung als Chance für politische Teilhabe aller!

Seit Jahren, gar Jahrzehnten versuchen verschiedene Akteure immer wieder an der Situation etwas zu ändern. Mit der Initiative „Politik als Schulfach“ schon die Schülerinnen und Schüler selbst. Aber auch die Deutsche Vereinigung für politische Bildung in Berlin (DVpB), die Politikdidaktik der FU Berlin, die Friedrich-Ebert-Stiftung sowie die bildungspolitischen SprecherInnen der Fraktionen. In kaum einem anderen Bundesland manifestiert sich politische Ungleichheit so stark im Schulsystem wie hier.

Politisches Desinteresse hängt u. a. damit zusammen, dass es oft schwer nachvollziehbar sei, was in der Politik geschehe (61%). Aus Perspektive der politischen Bildung liegt damit auf der Hand, dass zentrale Kompetenzen aufgrund des Fehlen des Faches nicht vermittelt worden sind: das Verstehen und Beurteilen von politischen Problemen, Entscheidungen und Konflikten sowie auch Formen des politischen Handelns, z. B. über Politik zu diskutieren, eigene Positionen zu artikulieren, Kompromisse zu schließen. Handelt es sich damit um Fähigkeiten, die in bildungsaffinen Milieus den Kindern in ihren Familien als sozio-kulturelles Kapital häufig mitgegeben werden, erhalten die anderen SchülerInnen hier aufgrund eines fehlenden Politikunterrichts in Berlin kein ausgleichendes Angebot. Die politische Bildung schließt sich hier den Warnungen der empirischen Wahlforschung an: „Wir dürfen nicht zulassen, dass sich ganze Stadtteile von der politischen Teilhabe abkoppeln. Wenn Politik am Küchentisch kein Thema mehr ist, muss politische Sozialisation mehr als zuvor in der Schule stattfinden“ (Bertelsmann Stiftung 2013).

[1] Vgl. Vehrkamp, R. et al. (2013): Gespaltene Demokratie. Demokratiezufriedenheit und Partizipation vor der Bundestagswahl 2013. Bertelsmann Stiftung (Hg.), Gütersloh. In:  http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-6E6C46E0-D218AFF1/bst/xcms_bst_dms_37989_37990_2.pdf

[2] A.a.O.

[3] Lange, D. (2013): Perspektiven der gesellschaftlichen und politischen Partizipation von Jugendlichen. Sozialer Kontext und Politikunterricht als Bestimmungsfaktoren. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.), Berlin.

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