Exilland Deutschland? Herausforderung für die politische Bildung

Freitag, 01.07.2016, 10.00 – 16.00 Uhr

Berliner Rathaus

Veranstalter: Berliner Landeszentrale für politische Bildung und Deutsche Vereinigung für politische Bildung, Landesverband Berlin

 

Flucht und Vertreibung ist im 21. Jahrhundert zur Realität von mehr als 60 Millionen Menschen weltweit geworden. Angesichts der steigenden Zahl gewaltsamer Konflikte und Naturkatastrophen wird dies auch in absehbarer Zukunft so bleiben. 2015 war das Jahr, in dem erstmals über eine Million geflüchtete Menschen nach Deutschland gekommen sind. Viele von ihnen werden auch eine Bleibeperspektive haben.

Infolge dieser Situation stehen der Bundesrepublik gesellschaftliche Veränderungen bevor. Der heutige Fluchtkontext unterscheidet sich deutlich von der bisher bekannten Arbeitsmigration, die Deutschland zu einem Einwanderungsland gemacht hat: so hinsichtlich der Zuwanderungsmotive, individueller Bleibeperspektiven und vor allem auch in Bezug auf die soziale Zusammensetzung. Auch ist eine große Zahl unbegleiteter, geflüchteter Minderjähriger, zu betreuen und zu versorgen. Viele Menschen fliehen aus dem afrikanischen, arabischen und vorderasiatischen Raum, viele von ihnen sind muslimischen Glaubens.

 

Wir alle sind durch diese Situation auch persönlich herausgefordert. Neue, ungeahnte und vor allem in ihrer weiteren Entwicklung offene Situationen müssen von uns konstruktiv bewältigt werden. Wir können weder auf unsere bisherigen Erfahrungen und Verfahren vertrauen noch lassen sich die kommenden Entwicklungen prognostizieren. Ebenso sind damit Verunsicherungen und Ängste verbunden, die unsere offene Gesellschaft auch in Form von Diskriminierungen und Gewalt erschüttern. Ihnen nachzugeben, wäre aber ein Sieg derer, die Angst verbreiten, um ihre politischen Interessen durchzusetzen. Menschen müssen auch für die Auseinandersetzung mit ihren eigenen Ängsten gestärkt werden.

 

Mit dem Begriff des Exillandes verbinden sich nicht nur die aktuellen Fragen nach gesellschaftlichen Ressourcen und nach unserer Bereitschaft und Fähigkeit zu Empathie und Solidarität. Auch unsere Vorstellungen und Konzepte, wie politische Teilhabe zu gestalten ist, sind herausgefordert. Wie kann künftig dieses Recht für jene verwirklicht werden, die weder die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen noch sie anstreben und auch keine EU-Bürger/-innen sind? Gerade für zunehmend globalisierte Städte wie Berlin mit einem hohen Anteil an Einwohner/-innen ohne Staatsbürgerschaftsrechte und mit einer eher kurzfristigen Bleibeperspektive stellt sich die Frage,  wie Konzepte des Zusammenlebens und der Partizipation neu bestimmt werden können: weg von naiven Assimilationserwartungen, Hinterfragen von  Integrationsvorstellungen in  einer Einwanderungsgesellschaft  hin zu der gestalteten Vielfalt einer globalisierten Gesellschaft.

 

Die internationalen Menschenrechtskonventionen, denen Deutschland beigetreten ist, stellen wichtige Orientierungspunkte für die Gestaltung der Politik im Kontext von Flucht und Asyl dar. So hat die UN-Kinderrechtskonvention eine große Bedeutung für die Gestaltung der Aufnahme von den 40% der Geflüchteten unter 18 Jahren. Für sie gilt die Trias der Kinderrechtskonvention aus Schutz, Förderung und Partizipation. Deren psychosoziale Betreuung angesichts der traumatischen Erlebnisse, die ein Teil der Fluchtgründe sind und auch während der Flucht erfahren wurden, ist somit eine menschenrechtliche Verpflichtung.

 

Alle Bereiche der politischen Bildung stehen vor neuen Aufgaben: Schule, Jugend- und Erwachsenenbildung, Soziale Arbeit und universitäre Bildung. Nicht nur die Ankommenden müssen sich neu orientieren und bei der Teilhabe an unserer Gesellschaft unterstützt werden, auch die hier Lebenden müssen lernen, sich auf die geänderte Situation einzustellen. Der politischen Bildung stellen sich dabei vor allem folgende Aufgaben:

Vermittlung von Informationen über Migrationsprozesse, Grund- und Menschenrechte

Reflexion über alltägliche Erscheinungsformen von Rassismus und Dominanzkultur

Angebote der Professionalisierung für Menschen, die mit Geflüchteten arbeiten

Beiträge zum Perspektivwechsel zwischen geflüchteten Menschen und Berlinerinnen und Berlinern

Angebote für neue Einwohnerinnen und Einwohner, Teilhabemöglichkeiten im demokratischen Handlungsrahmen kennenzulernen

Foren der Diskussion und des Austauschs zu gesellschaftlichen Entwicklungsperspektiven schaffen

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass gerade solche Ansätze, wo nicht über, sondern gemeinsam mit geflüchteten Menschen gearbeitet wird, für fast alle Bildungsträger Neuland darstellen.

Politische Bildung wird auch ihre Grundsätze und ihr Selbstverständnis reflektieren und weiterentwickeln müssen: Welches sind angesichts der Entwicklungsprozesse die angemessenen didaktischen Konzepte? Welche methodischen Zugänge müssen gewählt werden, um verschiedene Zielgruppen, auch Menschen mit Fluchterfahrungen zu erreichen? Welche Bedeutung haben die internationalen Menschenrechtskonventionen für die politische Bildung? Wie müssen Ansätze des transkulturellen Lernens, der Antidiskriminierungsarbeit, der Diversity-Pädagogik, der postkolonialen Theorie etc. in die Konzepte der politischen Bildung integriert werden?

 

Die Prozesse sind im Fluss, jede Reflektion und Diskussion kann nur Zwischenergebnisse zum Ziel haben. Sozialwissenschaften und die Profession der politischen Bildung müssen gemeinsam  künftige Entwicklungen und Perspektiven diskutieren.

Die Deutsche Vereinigung für politische Bildung und die Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Berlin laden gemeinsam zu der Veranstaltung „Exilland Deutschland? Herausforderung für die politische Bildung“ ein, um sich dieser Aufgabe der gemeinsamen Diskussion der Professionen zu stellen.

 

 

Programm:

 

Freitag, 01.07.2016

10 h                 Begrüßung: Prof. Dr. Sabine Achour, Thomas Gill

 

10.15 h            Flucht und Migration als Herausforderung und Chance

Dr. Steffen Angenendt, Stiftung Wissenschaft und Politik

 

11.00 h            Perspektiven einer neuen Integrationspolitik

Canan Bayram, MdA, Bündnis 90 / Grüne

 

11:30 h            Diskussionsrunde: Muss unser Verständnis von Politik und Gesellschaft globaler, diversitätssensibel, menschenrechtsorientierter, … werden?

Moderation: Prof. Dr. Sabine Achour, FU Berlin

Dr. Steffen Angenendt, Stiftung Wissenschaft und Politik

Canan Bayram, MdA

Prof. Dr. Viola Georgi, Uni Hildesheim

Prof. Dr. Claudia Lohrenscheit, Hochschule Coburg

Mohammed Jouni, „Jugendliche ohne Grenzen“

Jamila Adamou, Hessische Landeszentrale für politische Bildung (angefragt)

 

13.00 h            Pause

 

13.30 h            Round-table Gespräche

Perspektiven für die Politische Bildung

Schulische politische Bildung, Prof. Dr. Ingo Juchler, Uni Potsdam

Politische Erwachsenenbildung: Prof. Dr. Bernd Overwien, Uni Kassel

Politische Jugendbildung, Ina Bielenberg, AdB

Wissenschaft und Politische Bildung, Prof. Dr. Peter Massing, FU Berlin

Politische Bildung und Soziale Arbeit, Prof. Dr. Barbara Schäuble, Alice-Salomon-Hochschule Berlin

 

14.45 h            Pause

 

15.00 h            Präsentation der Ergebnisse der Tisch-Gespräche durch Berichterstatter_innen

Moderation: Thomas Gill, Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Berlin

 

15.45 h            Verabschiedung