Unser Kollege Steve Kenner hat in der aktuellen Ausgabe der POLIS einen Beitrag zu rassismuskritischen Bildung verfasst. Hier können wir einen kleinen Ausschnitt davon vorstellen. Das ganze Heft kann man hier beziehen und wird unseren Mitglied kostenfrei zugesandt.

Hier gibt es den ganzen Beitrag als PDF

Eine rassismuskritische Zivilgesellschaft ist keine Selbstverständlichkeit 

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Steve Kenner

Immer häufiger sehen sich Lehrkräfte an Schulen mit rassistischen und demokratiefeindlichen Äußerungen der Schülerinnen und Schüler konfrontiert. Das vermeintliche Wissen über gewalttätige Flüchtlinge, korrupte Politikerinnen und Politiker, Steuererhöhungen und die Gefährdung des Abendlandes beziehen die Jugendlichen und Heranwachsenden dabei vorwiegend aus den sozialen Medien. Über Facebook, Twitter, Instagram und Snapchat verbreiten sich Falschmeldungen, populistische und verkürzte Aussagen, rassistische und menschenverachtende Hetze innerhalb kürzester Zeit. Immer mehr Schülerinnen und Schüler schenken dabei den abstrusesten Thesen glauben. […]

Mit den beschriebenen Herausforderungen müssen sich nicht nur Politiklehrkräfte auseinandersetzen, doch ihnen kommt eine besondere Rolle im Kontext schulischer politischer Bildung zu. Sie sollten politische Bildung in Bezug auf diese Entwicklung auf drei grundlegende Säulen aufbauen: (1) rassistische, menschenverachtende Äußerungen dürfen keinen Platz im Unterricht finden. Hier muss klar Stellung bezogen werden. Dennoch müssen (2) die Schülerinnen und Schüler angstfrei ihre Sorgen formulieren können. Wenngleich der schulische Alltag weniger mühsam wäre, birgt es eine viel größere Gefahr, wenn Schülerinnen und Schüler ihre Ansichten im Unterricht nicht mehr artikulieren würden. Lehrkräfte würden dann den Zugriff auf diese Schülerinnen und Schüler vollständig verlieren. Eine von Dirk Lange, Holger Onken und Tobias Korn durchgeführte Studie belegt, dass vor allem politisch weniger interessierten Schülerinnen und Schülern, die einer politischen Partizipation distanziert gegenüberstehen, nur der Politikunterricht einen Raum bietet, politische Fragen zu thematisieren und zu diskutieren (vgl. Lange / Onken / Korn 2013, S. 59). Nur in der Schule haben politische Bildnerinnen und Bildner die Möglichkeit, das verkürzte Wissen aus den sozialen Medien zu kontextualisieren, differenziert zu diskutieren und zu ergänzen. Schülerinnen und Schüler müssen darin bestärkt werden, Informationen kritisch zu reflektieren, wenngleich oder gerade weil dies dazu führt, dass auch Lehrkräfte oder Eltern hinterfragt werden. Eine weitere wichtige, aber in diesem Kontext oft vernachlässigte Säule politischer Bildung muss (3) die Stärkung jener Schülerinnen und Schüler sein, die sich gegen die bestehenden Ressentiments zur Wehr setzen. Immer wieder erlebe ich im Politikunterricht, dass diese Schülerinnen und Schüler sich zurückziehen und sich an Debatten kaum noch beteiligen. Bestärkt werden können sie beispielsweise dadurch, dass die Schule Freiräume schafft, sich zu vernetzen und sich politisch zu engagieren.

Politische Bildung sollte in Anbetracht der derzeitigen gesellschaftspolitischen Lage informieren, aufklären, differenzieren, aber eben auch politische Aktion ermöglichen. Der 14-jährige Damian, aktiv in einer Antirassismus-AG, hat diesbezüglich eine klare Haltung: „Man muss die Schüler nicht zum politischen Handeln animieren, aber man sollte ihnen die Möglichkeit bieten, sich zu engagieren.“ Neben dem hier genannten Beispiel einer Antirassismus-AG kann es auch andere Formen politischen Handelns geben, die in den schulischen Alltag integriert werden können. Am Ludwig-Meyn-Gymnasium in Uetersen (Schleswig-Holstein) organsierten Schülerinnen und Schüler im Oktober 2015 beispielsweise eine Flüchtlingskonferenz. „Auch wenn die beteiligten Schülerinnen und Schüler selbst ‚nur‘ die Konferenz zur Initiierung von Flüchtlingsprojekten an der Schule organisieren und keine eigenen entwickeln sollten, kann [die Teilhabe an diesem Projekt] doch als ein politisches Statement gewertet werden.“ (Zankel, POLIS 1/2016, S. 22) Die begleitende Lehrkraft Sönke Zankel kommt zu dem Schluss, dass die Flüchtlingskonferenz ein Erfolg war und empfiehlt diese Form des politischen Handelns, weil Politik dadurch „für die Schülerinnen und Schüler zu einem Erfahrungs- und Gestaltungsraum wird.“ (ebd. S. 25) […]

Ein [weiteres] Beispiel dafür, wie politische Aktion von der Schule ausgehend Politik erfahrbar machen kann und zugleich dazu führt, dass Schülerinnen und Schüler politisch handeln und einen Beitrag zur freiheitlich demokratischen Zivilgesellschaft leisten, ist der Berliner Refugee Schul- und Unistreik. Seit Jahren organisieren sich hier Schülerinnen und Schüler sowie Studierende selbstbestimmt und unterstützt durch Lehrkräfte in Versammlungen und Arbeitsgemeinschaften. Sie sind aktiv in der Flüchtlingshilfe, entwickeln Informationsmaterial gegen Fremdenhass und Rassismus und organisieren Demonstrationen sowie Schul- bzw. Universitätsstreiks. Nicht aus Eigennutz, nicht um gegen Studienbedingungen oder Unterrichtsfächer aufzubegehren. Sie streiken nicht, um zu schwänzen, sondern im Gegenteil, um aktiv politische Bildung zu betreiben. Sie leisten ihren Anteil, um das Meinungsbild in dieser Gesellschaft um eine Facette zu erweitern, um Rassismus und Fremdenfeindlichkeit entgegenzustehen.

Auszug aus:

Steve Kenner (2016): Aktion statt Resignation: Den aktuellen gesellschaftspolitischen Herausforderungen mit politischer Bildung begegnen. In: POLIS 2/2016, WOCHENSCHAU Verlag.